Claim-Management-Strategie: Strukturierte Entscheidungsfindung in Claim-Situationen
15.09.2017. FOR-DEC. Ein Entscheidungsfindungsmodell aus der manntragenden Luftfahrt adaptiert auf das Claim Management in industriellen Projekten.
FOR-DEC ist eine Methode zur strukturierten Entscheidungsfindung in der bemannten Luftfahrt, welche von Mitarbeitern des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt entwickelt wurde. Zielsetzung der FOR-DEC-Methode ist es, in einem dynamischen Umfeld Entscheidungen zu treffen, welche robust sind gegen vorschnelle Impulse und das Bauchgefühl einzelner handelnder Personen.
Die Buchstaben des Akronyms FOR-DEC bezeichnen die einzelnen Schritte auf dem Wege zur robusten Entscheidung und sind wie folgt hinterlegt:
- Facts: Durch welche prüfbaren Fakten ist die Situation gekennzeichnet, die der Entscheidung bedarf?
- Options: Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen in dieser Situation?
- Risks & Benefits: Welche Risiken und Chancen ergeben sich für jede der im vorherigen Schritt identifizierten Handlungsmöglichkeiten?
- - DER BINDESTRICH: Dies ist der Moment des Innehaltens, bevor die die Entscheidung für das weitere Vorgehen getroffen wird und die Umsetzung der Handlungsmöglichkeiten beginnt. Der Bindestrich; der Moment des Innehaltens, ist wichtig um zu verhindern, dass durch operative Hektik wichtige Aspekte der entscheidungsfordernden Situation übersehen werden.
- Decision: Wahl einer Handlungsmöglichkeit.
- Execution: Umsetzung der Handlungsmöglichkeit.
- Check: Überprüfung, ob die Umsetzung der gewählten Handlungsmöglichkeit zum Ziel führt.
Wichtig bei der Anwendung der FOR-DEC-Methodik ist es, zu verhindern, dass das zeitliche Entscheidungslimit nicht aus den Augen verloren wird. Wird/ ist das zeitliche Entscheidungslimit kritisch, muss zwingend als erstes eine Handlungsmöglichkeit zur Umsetzung gewählt werden, die maximalen Sicherheitszuwachs aufweist.
„Im Projektmanagement fliegen wir nicht“.
Das alles klingt recht nachvollziehbar, was die FOR-DEC-Methodik hier an Hilfestellung für Piloten in der Luftfahrt gibt, deren oberstes Ziel vollkommene Sicherheit für „Mann und Gerät“ ist. Aber was hat dies mit dem Claim Management im Rahmen der Abwicklung industrieller Projekte zu tun?
In der Luftfahrt wie auch im Projektmanagement sind Menschen tätig, die täglich mit der Bewältigung von neuen und komplexen Situationen befasst sind. Entscheidungen müssen unter Zeitdruck gefällt werden. „Mein Bauchgefühl sagt mir….“, äußert der altgediente Projektdirektor und trifft eine intuitive Entscheidung.
Bei einer solch intuitiven Entscheidungsfindung, spielen zwei Heuristiken eine wesentliche Rolle: „Similarity Matching“ und „Frequency Gambling“. So nannte sie James Reason, ein britischer Psychologe an der Universität Manchester. Beide Heuristiken zielen darauf ab, schnelle Entscheidungen auf Basis bislang gemachter Erfahrungen zu treffen. Sie beinhalten aber auch, dass Informationen zur aktuellen Situation vernachlässigt werden und nur Musterübereinstimmungen der aktuellen Situation mit mehr oder wenig vergleichbaren Situationen aus der Vergangenheit berücksichtigt werden. Diese Vorgehensweise hat einen Namen: „Best Practise“.
„Best Practises“ im Claim Management -Fluch oder Segen?
„Und täglich grüßt das Murmeltier“. So hat Peter Addor, ein Schweizer Mathematiker und Systemtheoretiker einen kritischen Fachbeitrag (Link zum Blog von Peter Addor) zum Thema Best Practises und deren Anwendbarkeit im Projektalltag auf seinem Blog betitelt. Peter Addor schreibt unter anderem:
„Für Situationen, die häufig vorkommen, haben Sie Erfahrung. Sie haben sie schon oft angetroffen und wissen aus Erfahrung, wie Sie sich darauf verhalten müssen. Zum Beispiel einen eisbelegten Waldweg habe ich schon oft erfahren und Techniken entwickelt, um mich darauf fortzubewegen, ohne hinzufallen. Hingegen habe ich noch nie ein zugedecktes Loch in einem Waldweg angetroffen. Ich habe dafür keine Erfahrung und würde glatt hinein stürzen! Würde ich täglich an ein zugedecktes Loch heran laufen, würde ich Techniken der Achtsamkeit entwickeln, um solche Löcher zu entdecken und zu umgehen.“
Übersetzt in die Situationen, die täglich in der Projektabwicklung auftreten, heißt dies doch, dass der sture Glaube an die Wirksamkeit von „Best Practises“ im Claim Management nicht unbedingt geeignet sein muss, um Unwägbarkeiten vorzubeugen. „Zugedeckte Löcher in vertrauten Waldwegen“ kennt sicherlich jeder, der in der Projektabwicklung tätig ist.
FOR-DEC, adaptiert auf das Claim Management im Projektalltag.
Besteht eine Situation, in der zum Beispiel ein Claim eines Vertragspartners (in diesem Fall ein Subkontraktor des auftragnehmenden Anlagenbauunternehmens ) abgewehrt werden muss, so ist es sinnreich im Team der unmittelbar an dem Sachverhalt dieses Claims beteiligten Mitarbeiter…:
- …die Fakten zu klären:
- Was ist der Sachverhalt, der dem Claim zugrundeliegt?
- Wie ist der Sachverhalt vom eigenen Unternehmen dokumentiert? Prüfbarkeit!
- Wie ist der Sachverhalt vom claimenden Vertragspartner dokumentiert? Prüfbarkeit!
- Wie schwerwiegend (Geld, Bauzeit) ist der Claim des Vertragspartners für das eigene Unternehmen?
- Welche vertragliche Anspruchsgrundlage nennt der claimende Vertragspartner? Eindeutigkeit! Stichhaltigkeit!
- Aufgrund welcher vertraglichen Grundlage kann die Mehrforderung des Vertragspartners abgewehrt werden? Eindeutigkeit! Stichhaltigkeit!
- In welcher Abhängigkeit befindet sich das eigene Unternehmen vom Vertragspartner?
- In welcher Abhängigkeit steht der claimende Vertragspartner zum eigenen Unternehmen?
- …die Handlungsmöglichkeiten („Options“) zu identifizieren:
- Der Claim des Vertragspartners wird ohne Begründung entschieden zurückgewiesen.
- Der Claim des Vertragspartners wird als nicht prüffähig zurückgewiesen.
- Dem Vertragspartner wird mitgeteilt, dass er keinen Folgeauftrag mehr erhalten würde, sollte er seine Mehrforderung aufrecht erhalten (Achtung: Compliance-Thema).
- Der Claim des Vertragspartners wird akzeptiert und in eine Change Order zum Vertrag umgewandelt.
- Dem Vertragspartner wird nicht geantwortet, in der Hoffnung er ändert seine Meinung und gibt seinen Claim auf („Aussitzen“).
- Der Vertragspartner wird vertröstet; ihm wird mitgeteilt, diesen Claim kläre man bei der Verhandlung der Schlussrechnung im Projekt.
- Dem Vertragspartner wird ein Gegen-Claim in vergleichbarer oder größerer Höhe mitgeteilt.
- etc. pp.
- ...
- ...die Risiken und Chancen für jede einzelne Handlungsmöglichkeit in einer Matrix zu bewerten und die einzelnen Risiken und Chancen quantitativ einander gegenüberzustellen. Definiert man an eine Kennzahl für Risiken/ Chancen = RC mit dem Wertebereich von -10 bis +10 kann man die Wertigkeit einer Handlungsmöglichkeit leicht quantifizieren. Nachstehend ein –fiktives- Beispiel wie solch eine Matrix aussehen kann:
- Hat man jetzt alle der identifizierten Handlungsmöglichkeiten solcherart strukturiert im Team bewertet und einander gegenübergestellt, so erscheint die Wahl derjenigen Handlungsmöglichkeit („Option“) mit dem höchsten HM-Wert zur Umsetzung am zielführendsten.
- …innezuhalten („Der BINDESTRICH“). Die berühmte „Nacht, während der man noch mal darüber schläft“. Seit der Bewertung der Handlungsmöglichkeiten ist eine -kurze- Zeit vergangen. Jeder im Team hatte noch einmal Gelegenheit für sich die Situation Revue passieren zu lassen und gegebenenfalls Aspekte der Claim-Situation zu identifizieren, an die vorher im Team nicht gedacht wurde und trägt diese gegebenenfalls bei der nächsten Sitzung vor („Claim Fact Review“, siehe hierzu auch unseren Fachartikel "Die Ablauforganisation des Claim Managements -Teil 2").
- …eine Entscheidung zu treffen („Decision“). Sind keine neuen Aspekte bekanntgeworden, welche die Handlungsoptionen dahingehend verändern könnten, dass die zuvor identifizierte Handlungsmöglichkeit mit dem höchsten HM-Wert („maximaler Sicherheitsgewinn“) sich signifikant verschlechtert oder dass eine andere Handlungsmöglichkeit einen höheren Sicherheitsgewinn verspricht, so wird im Team die Umsetzung der Handlungsmöglichkeit entschieden.
- …die beschlossene Handlungsmöglichkeit umgesetzt („Execution“). Zum Beispiel durch (ohne Anspruch der nachstehenden Beispiele auf unbedingte Eignung):
- Einen Versuch, das klärende Gespräch mit dem Anspruchsgegner zu suchen.
- Übersendung eines entsprechenden, den Claim des Vertragspartners sachlich zurückweisenden, Antwortschreibens.
- Einforderung von prüffähiger Anspruchsdokumentation.
- Informelle Mitteilung an den Vertragspartner, dass die Vergabe des Folgeprojektes an ihn fraglich sei.
- etc. pp.
- …
- …die Auswirkungen der umgesetzten Handlungsmöglichkeit auf das eigene Projekt/ Unternehmen zu prüfen („Check“).
- Verändert der Vertragspartner seine Arbeitsweise im Projekt („Go-slow“)?
- Kündigt er an, dass Beschaffungslangläufer für weitere gemeinsame Projekte erst mit sehr starker Verzögerung verfügbar sein werden?
- Wechselt er sein Schlüsselpersonal aus? Wenn ja, warum?
- Droht er die Eskalation der Mehrforderungsbehandlung auf eine andere Ebene (Bereichsleitung, Geschäftsführung, Schiedsgerichtsbarkeit, Ordentliche Gerichtsbarkeit) an?
- etc. pp.
- …
An dieser Stelle der FOR-DEC-Methodik findet die Regelschleife statt. Geplante Resultate werden mit den erreichten Ergebnissen verglichen und nötigenfalls andere Handlungsmöglichkeiten zur Umsetzung entschieden.
Fazit:
Auf den ersten Blick klingt diese Prozedur aufwendig. „Für so etwas haben wir keine Zeit. Wir müssen die Termine im Projekt halten, sonst zahlen wir Pönale.“, äußert der weiter oben schon -fiktiv- zitierte Projektdirektor. Zum einen hat dieser Projektdirektor Recht. Die Entrichtung von Pönale an den Kunden, der die Großanlage beauftragt hat muss vermieden werden. Aber dies ist kein Sachverhalt, der intuitiv entschieden werden kann; vielmehr gehört der Sachverhalt der drohenden Pönale mit in den Schritten „Facts“, „Options“ und „Risks an Benefits“ der FOR-DEC-Methodik behandelt.
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